Biografiearbeit – eine spannende Reise
Jeder von uns hat eine Lebensgeschichte. Wenn Sie sich einmal Zeit nehmen, Ihre eigene einzig-
artige Geschichte zu betrachten, werden Sie mehr und mehr ihr eigenes Selbst bewusst entdecken. Biographiearbeit spricht immer das "ICH" des Menschen an und wendet sich an Personen, die
eigenständig und schöpferisch mit ihrem Leben umgehen wollen.
Anthroposophische Biografiearbeit setzt bei einer aktuellen Fragestellung des Menschen an und
lässt sich von dieser leiten. Sie wurde in den 1970er Jahren vom niederländischen Psychiater
Bernard Lievegoed (1905–1992) entwickelt. Sie begleitet und unterstützt den individuellen Ent-
wicklungsweg. Sie kann dazu beitragen, eine fragende und offenere Haltung der eigenen Biografie
gegenüber zu entwickeln und dadurch Zusammenhänge bewusst zu empfinden, zu erkennen und
auch anzuerkennen. Dies schafft die Grundlage zum freien Gestalten der eigenen Zukunft.
Anthroposophische Biografiearbeit betrachtet die Entwicklung des Menschen unter physischen,
seelischen und geistigen Aspekten und geht davon aus, dass jeder Mensch in dieser Welt eine
Aufgabe, einen Auftrag hat. Diese Aufgabe ist der unbewusste Antrieb in unserem Leben und be-
stimmt unser Handeln.
Wir ignorieren diesen Auftrag gerne, auch wenn wir ihn ahnend erkennen. Er erscheint uns durch
unsere Lebensumstände möglicherweise unbequem, schwierig und manchmal sogar unerfüllbar.
Unser Auftrag hat immer zum Ziel, uns selbst im geistig-seelischen Bereich weiterzuentwickeln.
Er hat nichts zu tun mit den heutigen Normen unserer Gesellschaft, in der größtenteils das An-
sehen und wirtschaftlicher Erfolg zählen.
Biografiearbeit möchte diesen individuellen ureigenen Auftrag, den „roten Faden“ im Leben auf-
spüren und ins Bewusstsein des Einzelnen bringen.
Das Innere Kind annehmen
Neben unserem ureigenen Lebensauftrag spielt in der Biografie unser Inneres Kind, also die
Erfahrungen und Prägungen, die wir aus unserer Kindheit mitbringen, eine bedeutende Rolle.
Unser Inneres Kind umfasst unseren Gefühlsmenschen – es trägt in sich Anteile aus der Ver-
gangenheit, es lebt in unserer Gegenwart, es kann schöpferisch unsere Zukunft zu uns einladen.
Oft sind wir jedoch nicht frei in unserem Gefühlsmenschen, unser Inneres Kind ist besetzt von
den verletzenden Erlebnissen unserer Vergangenheit und bleibt so gefangen in Emotionen wie
Angst, Trotz, Zweifel, Wut, Vorwurf...
Mit der Biografiearbeit üben wir auch, unser Inneres Kind zu erkennen und zu verstehen, anzu-
nehmen und lernen, es zu lieben, ihm zu verzeihen und es schließlich loszulassen.
Darstellung des Lebens in Jahrsiebten
Mein anthroposophischer Orientierungsrahmen sind die 7-Jahres-Phasen (Lievegoed 1979).
Der Lebenslauf gliedert sich zunächst in 4 Hauptphasen.
Zu jeder Phase gehören gewisse Grundbedürfnisse, Einstellungen, Werte und Motive. In jeder die-
ser Phasen entwickeln sich auch ganz bestimmte Fähigkeiten.
Das erste Jahrsiebt (1-7 Jahre)
ZEIT DER NACHAHMUNG – DIE WELT IST GUT
Es passiert Enormes in der körperlichen Entwicklung des Kindes. Das Kind wächst, es richtet sich
auf, beginnt zu laufen und zu sprechen. Dies alles geschieht ohne aktives Zutun des Kindes. Mit
dem 7. Lebensjahr, erkennbar am Zahnwechsel, ist das Kind schulreif.
Die wichtigsten Aspekte dieses Jahrsiebtes sind die Nachahmung und das Vorbild. So entwickelt
das Kind ein Verhältnis zu seiner Umwelt. Die Persönlichkeit der Eltern, ihr Umgang miteinander
und mit den Kindern, das Familienklima, das sie schaffen, auch durch die Gestaltung der Wohn-
und Lebenssituation, sind prägend.
Die Schulreife ist erkennbar an körperlichen Merkmalen (wie Körperproportionen und Zahnwech-
sel), kognitiven Merkmalen (wie Sprachbeherrschung und Instruktionsverständnis), motivationa-
len Merkmalen (zum Beispiel Neugier, Leistungsbereitschaft, Aufmerksamkeit) und Merkmalen
des Sozialverhaltens (wie Bereitschaft zur Loslösung von Bezugspersonen und Selbstständigkeit).
Das zweite Jahrsiebt (7-14 Jahre)
ZEIT DER VORBILDER – DIE WELT IST SCHÖN
Das Gedächtnis und das Gewissen werden ausgebildet (Schulreife), Neigungen, Lebensgewohn-
heiten und das Temperament manifestieren sich.
Durch Lernen, Leisten, Wissen, Können und dafür anerkannt werden entwickelt das Kind seine
Fähigkeiten. Für das Kind sind die Erwachsenen selbstverständliche Autoritäten, die es verehrt,
weise Könige, deren Wort Gesetz ist. Es sucht in ihnen die geliebte Autorität und die liebevolle
Anerkennung und Bestätigung seiner Eigenart. Es will durch sie die Schönheit der Welt erlebend
kennen lernen und aufnehmen, will die Welt aber noch nicht unbedingt verstehen, weil es dies
noch nicht kann, da die Urteilskraft noch nicht erwacht ist.
Idealerweise soll die Schule eine Atmosphäre von Herausforderung, Schutz und Vertrauen schaf-
fen. Das heranwachsende Kind lebt noch ganz in der Empfindung und findet schön bzw. hässlich,
was die geliebte Autorität schön oder hässlich findet. Es will am Schönheitsempfinden und am
Weltinteresse der Autorität sein eigenes Schönheitsempfinden und Weltinteresse entwickeln.
Das dritte Jahrsiebt (14-21 Jahre)
DIE GEBURT DES ICH, DER INDIVIDUALITÄT – DIE WELT IST WAHR
Der Jugendliche entwickelt sein eigenes, persönliches Urteil. Seine eigene Meinung und Kritik-
fähigkeit erwacht, nicht nur intellektuell, sondern auch ästhetisch und moralisch. Die Urteilsfähig-
keit entwickelt sich aus dem im zweiten Jahrsiebt gebildeten Schönheitsempfinden. War es dem
Kind in dieser Zeit möglich, ein starkes Schönheitsempfinden zu bilden, so kann sich daraus die
eigene Urteilsfähigkeit entwickeln und das Bedürfnis, die kennen und lieben gelernte Welt zu
verstehen.
Der Jugendliche erlebt das Erwachen der eigenen Urteilsfähigkeit und das Verstehen der Welt als
inneres Freiheitserlebnis. Er sucht seine eigene Wahrheit in der Wahrheit der Welt, sucht ihre Ge- setzmässigkeiten zu erkennen und zu verstehen, um seine eigene Wahrheit zu finden. Die Erwach-
senen sind nun keine selbstverständlichen Autoritäten mehr, sondern sollen Vorbilder sein im Su-
chen nach der eigenen Wahrheit in der Wahrheit der Welt. Der Jugendliche wählt sich nun seine
Autoritäten selbst, von denen er sagen kann: Dieser Mensch kann etwas!
Die eigene Persönlichkeit nimmt jetzt zunehmend Gestalt an. Das Denken, Fühlen und Wollen
wird mehr und mehr von der eigenen Persönlichkeit bestimmt.
Das vierte Jahrsiebt (21-28 Jahre)
DIE WELT IST REICH
Mit dem leiblichen Erwachsensein und der seelischen Geburt (Geburt des Ich um das 21. Lebens-
jahr), d.h. Mündigkeit, will der Mensch nun sein eigenes Leben leben und den Reichtum der Welt
erfahren und erleben. Es drängt ihn, in die Welt hinauszugehen und in ihr das Fremde und das
Abenteuer zu suchen und in der Auseinandersetzung mit dem Fremden seine Grenzen zu erleben
(Sturm und Drang). Dies zeigt sich durch Wechsel der Beziehungen, der Ausbildungs- bzw. Berufs-
und der Wohnsituation.
Der junge Erwachsene will in der Auseinandersetzung mit der Welt seine Fähigkeiten und Wahr-
heiten prüfen (Jugendproteste und -revolten), seine Selbstwahrnehmung und Selbstbeurteilung
schärfen und in sich seine eigene Autorität finden. Durch Übernehmen von verschiedenen Rollen
ergreift er Aufgaben und übernimmt Verantwortung, stellt sich dadurch selbständig in die Gesell-
schaft hinein und findet in ihr seinen sozialen Platz, seine Stellung. Die Art und Weise wie er dies
tut, widerspiegelt in verwandelter Form die Familiensituation im ersten Jahrsiebt.
Das fünfte Jahrsiebt (28-35 Jahre)
DIE WELT IST GEORDNET
Mit Abschluss der „Sturm und Drang-Zeit“ erwacht das Bedürfnis, die Welt und das eigene Leben
zu ordnen, sich niederzulassen, in Arbeit und Beruf befriedigende sinnvolle Aufgaben zu finden
und Karriere zu machen, im Privaten eine Familie zu gründen und Status zu haben.
Alles ist mit dem Verstand machbar und regelbar. Das Leben wird aus dem Gesichtspunkt des
persönlichen Nutzens gesehen und gestaltet: Man nimmt so viel vom Leben, wie es zu geben hat.
Grundlage für die Art und Weise wie der Mensch dies tut, bilden die in den vorherigen Jahrsiebten
entwickelten biografischen Elemente: Beziehung (1. Jahrsiebt), Fähigkeiten (2. Jahrsiebt), Ideale
und Anliegen (3. Jahrsiebt), Rollen, Stellung (4. Jahrsiebt).
Insbesondere die Lernsituation im zweiten Jahrsiebt, welche Haltung damals in Familie und Schu-
le in Bezug auf Bildung, Lernen, Wissen, Können, Leisten, Zielerreichung, Erfolg lebte, wie sein Ler-
nen und Leisten anerkannt und unterstützt wurde und welche Fähigkeiten er entwickelte, verwan-
delt sich in die Art und Weise, wie sich der Mensch jetzt durch seine Arbeit in die Welt stellt.
Der Mensch ist jetzt ganz auf sich gestellt und beginnt, sein eigenständiges Ich weiter zu entfalten.
Das sechste Jahrsiebt (35-42 Jahre)
SO STEHE ICH IN DER WELT
Mit diesem Lebensabschnitt beginnt die eigentliche Selbsterkenntnis, als Suche nach Identität,
nach sich selbst und der eigenen Beziehung zur Welt. „Was ist mein Eigenes? Wer bin ich wirklich,
unabhängig von Familie, Tradition, Bildung?“
Dazu gehört auch, jetzt die eigenen Schwächen zu erkennen und anzuerkennen und an ihnen zu
arbeiten. Der Anerkennung von sich selbst mit allen Stärken und Schwächen entspricht auch die
Anerkennung und Würdigung der anderen Menschen.
Der persönliche, selbstbezogene Standpunkt, nach dem die Welt bisher gestaltet und geordnet
wurde, will in einen objektiven, überpersönlichen Gesichtspunkt umgewandelt werden.
Die Art und Weise wie der Mensch nach seiner eigenen Wahrheit in Beziehung zur Wahrheit der
Welt sucht, widerspiegelt die Art und Weise wie er der Wahrheit der Welt und der eigenen Wahr-
heit in seinen Idealen im dritten Jahrsiebt begegnet ist.
Die Gefahr ist, dass diese Fragen nach Selbsterkenntnis nicht zugelassen und nicht gehört wer-
den, um die gut geordnete Lebenssituation, die man sich in Beruf und Familie geschaffen hat,
nicht in Frage zu stellen.
Der denkende Mensch sucht jetzt in seiner Seele nach Wahrheit. Er nimmt sich jetzt bewusst als
Individuum in dieser Welt wahr. In diesem Zeitraum entwickelt er besonders das logische, analy-
tische Denken.
Das siebte Jahrsiebt (42-49 Jahre)
ICH KANN DIE WELT VERÄNDERN
Mit dem seelischen Erwachsensein und als Folge von Selbsterkenntnis entsteht das Bedürfnis,
etwas Eigenes in die Welt zu stellen, eine eigene Idee zu verwirklichen und der Welt zu geben.
Es stehen einem viele Form- und Initiativkräfte zur Verfügung und gleichzeitig auch schon viel
Lebenserfahrung.
Das wirklich Eigene äussert sich in etwas Wesentlichem, Individuellem, kann deutlich oder ver-
steckt sein, ist aber immer selbstlos. Man will etwas realisieren, tun, durchsetzen, erreichen,
und geben für die Welt.
Die mehr unbewusste und empfindungsmässige Art und Weise wie sich der Mensch im vierten
Jahrsiebt ins Leben hineingestellt und sein Leben ergriffen hat, verwandelt sich in bewusstes
und zielvolles Handeln, durch das er sich in neue, eigene Beziehung setzt zur Welt und zu seinen
Idealen und Lebensimpulsen.
Die Gefahr ist, dass das Eigene dem Eigennutz dient, anstatt dass es der Welt und anderen Men-
schen dient.
Dem menschlichen Ich gelingt es jetzt immer mehr, die Herrschaft über die angeborenen Triebe,
Empfindungen und Begierden zu gewinnen. Dem Menschen ist es jetzt möglich, zu einem neuen
und höheren Bewusstsein zu erwachen.
Das achte Jahrsiebt (49-56 Jahre)
ICH KANN WEISE WERDEN
Das Verwirklichen des Eigenen zum Nutzen der Welt und Anderer ermöglicht es dem Menschen
nun, zurückzustehen und seine erworbenen Kompetenzen (Kenntnisse, Fähigkeiten, Erfahrungen)
anderen, jüngeren Menschen zur Verfügung zu stellen und zur Weisheit zu wandeln.
Vom Macher entwickelt er sich zum Berater und Förderer, zum wirklichen Chef, nämlich seiner
selbst. Er entwickelt sich, indem er die Entwicklung Anderer ermöglicht. Das klare, ordnende, aber
auch kalte und selbstbezogene Verstandesdenken des fünften Jahrsiebts verwandelt sich in war-
mes, lebensvolles, weises Herzdenken (Antoine de Saint Exupérys "Der kleine Prinz": „Man sieht
nur mit dem Herzen gut.“).
Die Gefahr ist, dass statt Weisheit Besserwisserei entsteht.
Der Mensch beginnt in diesem Lebensalter oft, religiöse Impulse zu einem festen Bestandteil
seines Lebens zu machen. Die schöpferische Kräfte des Menschen erwachen.
Das neunte Jahrsiebt (56-63 Jahre) und alle folgenden
ICH KANN GÜTIG WERDEN
Die Frage nach dem „Wer bin ich?“ und „Was soll ich, will ich?“ kann in dieser Zeit neue, vertiefte
Antworten finden. In der Zeit der nachlassenden Sinnestätigkeit (besonders Sehen und Gehör)
und des damit verbundenen Rückzugs von der Welt, kann der Mensch sich auf das eigene Innere
konzentrieren und sein wahres Wesen besser erkennen.
Es ist die Zeit des beginnenden Abschieds . Die Themen Krankheit, Tod und Existenz nach dem
Tod treten einem von aussen entgegen. Der Rückzug von der äusseren Welt ermöglicht das Wach-
sen von Selbstlosigkeit, Demut und Dankbarkeit dem eigenen Schicksal gegenüber. Die Verinner-
lichung ermöglicht eine stärkere und lebendigere Beziehung zur geistigen Welt, zu seinem höhe-
ren Selbst und zu seinem Engel.
Der Mensch findet zu seinen eigenen Werten und Idealen, zu seiner eigenen Moral. Er ist nun in
der Lage, durch seine innere Reife und sein Selbstbewusstsein moralisch fördernd, segnend, auf
andere Menschen zu wirken. Die Frage nach der eigenen Wahrheit, die im dritten Lebensjahrsiebt
erwacht und die Fragen nach der Identität, der eigenen Lebensaufgabe und dem eigenen Selbst,
die im sechsten Jahrsiebt erwachen, finden ihre Vertiefung und werden zu moralischer Fähigkeit.
Zur Weisheit kommt Güte.
Die Gefahr ist, dass der Mensch statt zum gütigen Menschen zum Moralisten wird, der den ande-
ren ihre Fehler vorhält.
Dem Menschen ist es in dieser Lebensphase möglich, sich als unverwechselbare geistige Indivi-
dualität zu begreifen.
Anmerkung: Die Jahreszahlen für die Übergänge zu einer neuen Lebensphase dürfen nur als ungefähr
betrachtet werden. Je älter der Mensch wird, desto mehr werden die Übergänge individuell verschieden.
Eine Entwicklungsphase kann auch zu früh oder zu spät eintreten, was meistens zu typischen Lebens-
problemen führt.
QUELLENHINWEIS und DANK:
Die Texte zur Biografiearbeit wurden in Anlehnung an die folgenden Quellen erstellt
bzw. teilweise übernommen:
Anthroposophische Praxis Oldenburg
Sylke Ober-Brödlin
Schramperweg 95
26129 Oldenburg
https://www.anthro-praxis-ol.de/
NonKonForm
Philip E. Jacobsen
Entwicklungsbegleitung
„Qualität der Jahrsiebte in der menschlichen Biografie“
Goetheanumstrasse 11
CH-4143 Dornach
Berufsvereinigung Biografiearbeit auf Grundlage der Anthroposophie e.V.
Broschüre "Was ist Biographiearbeit?"
https://www.biographiearbeit.de/
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